Der Weihnachtself
Aus einem Abstellraum trugen die beiden Männer noch einige Tische – zusätzlich zu denen die bereits aufgestellt worden waren – herbei und versahen sie mit dazugehörigen Stühlen. Die Tische wurden anschließend von ihnen gedeckt und schlicht dekoriert. Danach halfen Jung und Agilof in der Küche mit, während im Speisesaal allmählich immer mehr Stühle besetzt wurden.
Die unterschiedlichsten Menschen fanden hier zusammen: Obdachlose, Hartz 4-Empfänger, Asylbewerber, Männer, Frauen, Junge und Alte.
„Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie sich ohne dies hier kein festliches Essen hätten leisten können.“, erklärte Christoph Jung, als er Agilofs faszinierten Blick bemerkte.
„Das ist unglaublich… Eine so reiche Stadt und doch so viel Elend direkt innerhalb ihren Mauern.“
„Ja, es ist traurig, nicht wahr? Aber das wollen wir ja ändern. Hier bringen Sie doch bitte die Schüsseln auf die Tische, bevor das Essen kalt wird“, mischte sich Frau Baum tatkräftig ein.
Jung lächelte gutmütig. „Machen wir, Frau Baum. Komm Agilof, schnapp dir eine Schüssel.“
So wurde das Essen aufgetragen. Jung sprach ein Tischgebet und dankte allen Helfern, wonach der Raum schließlich vom Klappern von gut fünfzig Bestecken erfüllt war. Der Priester ließ sich an jedem Tisch einmal blicken und unterhielt sich mit den Speisenden. Selber aß er allerdings nichts.
Auch Agilof aß nichts. Er stand an eine Wand gelehnt da und beobachtete die Szenerie nachdenklich. Gestern hatte er in diesem Zauberkasten bei Jung noch gesehen, wie ein alter Mann von drei Geistern besucht worden war und die Bedeutung von Weihnachten gelernt hatte. Auch der Elf hatte dabei einiges gelernt. Weihnachten schien eine Zeit der Besinnung, des Friedens und der Liebe zu sein, dennoch stand er nun schon in der zweiten Einrichtung, die ihn sehr traurig machte. Gerne wollte er seiner Trauer Ausdruck verleihen und er hatte auch schon eine Idee. Langsam löste er sich von der Wand und trat nach vorne, dorthin, von wo der Priester zuvor gebetet hatte. Er räusperte sich hörbar und nach und nach verstummten die Gespräche. Neugierig richteten sich alle Blicke auf den Elfen. Jung sah ihn fragend an.
„Seid mir gegrüßt! Mein Name ist Agilof, ich komme von weither und bin derzeit bei diesem Mann dort zu Besuch.“ Der Elf deutete auf den Priester. Dieser nickte in die Runde und wartete angespannt darauf, was der Elf nun wieder vorhatte. „Ich gedenke Euch zur Unterhaltung bei diesem Mahl ein Lied darzubieten. Ihr werdet vielleicht die Sprache nicht verstehen, es ist die alte Sprache meines Volkes, aber ich denke, es wird Euch dennoch zu gefallen wissen.“
Damit erhob sich zunächst neuerliches Gemurmel. Der ein oder andere hüstelte amüsiert, aber als der Elf zu singen begann, erstarb jedes andere Geräusch im Raum. Selbst die Helfer in der Küche ließen die Spülbürste liegen und kamen herbei. Nicht nur hatte der Elf eine kristallklare und wohlklingende Stimme, auch die Melodie des Liedes war einerseits fremd und andererseits so einnehmend, wenn auch traurig, dass nahezu jeder – auch der Sänger selbst – Tränen in den Augen hatte, als er endete. Nachdem der Applaus verebbt war, und die Gespräche langsam wieder aufgenommen wurden, erhob sich Jung, ging zu Agilof und nahm den Elf zur Seite.
„Was für ein Lied war das?“, fragte er.
„Ein altes. Es ist in der alten Sprache der Elfen verfasst und handelt von der Schlechtigkeit der Menschen und der daraus folgenden Trennung der Welten. Es erzählt von Schmerz und Trauer. Ihr müsst wissen, dass mein Volk dem Euren stets zugeneigt war“, erklärte der Elf mit einem traurigen Lächeln und zuckte mit den Schultern.
„Es war wirklich sehr emotional, aber irgendwie war es sehr passend. Ich danke dir für deinen Beitrag zu diesem Fest.“
Nach dem Essen holte Jung noch eine Kisten aus seinem Auto. Er verabschiedete sich persönlich von jedem Gast und wünschte jedem Frohe Weihnachten. Den Kindern übergab er aus der Kiste jeweils einen Schokoladenweihnachtsmann. Diese hatte er extra für diesen Anlass besorgt und aus eigener Tasche bezahlt.
Als alle Gäste gegangen waren, machten sich die ehrenamtlichen Helfer ans Aufräumen. Es waren bereits halb fünf, als die letzten Handgriffe getätigt wurden und Jung auf die Uhr sah.
„Himmel, es ist schon so spät? “, entfuhr es dem Priester. „In einer halben Stunde muss ich die Familienmesse in der Liebfrauenkirche halten. Frau Baum, es tut mir leid, aber ich muss los!“
„Ist gut Herr Jung. Wir machen den Rest schon, ist ja nicht mehr viel. Einen schönen Abend noch und Frohe Weihnachten!“, entgegnete die Frau und wischte sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
„Ihnen auch! Auf Agilof, wir müssen uns beeilen!“
An der Kirche angekommen, bat der Priester den Elf, sich in die Kirche zu setzen und der Messe beizuwohnen. Bevor er in der Sakristei verschwand, meinte er noch: „Du hast mich gestern gefragt, warum das Kind dem Vieh zum Fraß vorgeworfen wird. Pass in der Messe gut auf, und du wirst es verstehen!“ Fragend zog Agilof eine Augenbraue in die Höhe, aber der Priester grinste nur und scheuchte den Elf zum Haupteingang.
Auf der Autofahrt zurück zur Wohnung des Priesters, unterhielten sich die beiden schließlich darüber, dass Agilof nun den Sinn des Kindes in der Krippe verstanden hatte. Es wurde deutlich, dass der Elf sich vielleicht mit der Kirche des Mittelalters befasst hatte, aber den christlichen Glauben vollkommen ignoriert hatte. Der Pastor ließ sich berichten, welchem Glauben der Elf anhing und schloss daraus auf eine alte Naturreligion. ‚Egal ob verrückt oder nicht, dieser Mann hat seine Rolle von hinten bis vorne durchdacht‘, dachte Jung bei sich.
Wieder in der Wohnung des Priesters angekommen, machte Agilof sich sogleich einige Notizen. Er hatte an diesem Tag einige neue Erkenntnisse gewonnen.
Zweiter Tag
Heute zwei Einrichtungen besucht, die beide auf ihre Weise deprimierend waren. Der Priester aber schien mit seiner Arbeit dort wirklich etwas Gutes zu tun.
Darüber hinaus habe ich Studien über die Religion des Priesters nachzuholen.
Jung heizte den Ofen vor und nahm zwei Tiefkühlpizzen aus dem Gefrierschrank.
„Jetzt darfst du an meiner ganz persönlichen Weihnachtstradition teilhaben“, meinte er, nachdem er die Küchenuhr eingestellt hatte und ins Wohnzimmer herüber gekommen war.
„Ich habe an Weihnachten immer viel zu tun, sodass es irgendwann selbstverständlich wurde, dass ich an Heiligabend nichts Aufwendiges koche, so wie andere, sondern mir einfach eine Fertigpizza mache. Dazu schaue ich jedes Jahr meinen Lieblingsweihnachtsfilm Der kleine Lord.“, erklärte er weiter.
Der Elf hatte sein Notizbuch beiseitegelegt und meinte: „Es ist mir eine Ehre, an Eurer Tradition teilhaben zu dürfen. Aber ich habe noch zwei Fragen: Was ist eine Fertigpizza? Und was ist ein Film?“
Der Priester lachte und schüttelte den Kopf. „Lass dich einfach überraschen.“
Und das tat Agilof dann auch.
Die zweite Messe, die Jung an diesem Tag halten musste begann um 23 Uhr. Diese Christmette wurde in der Kastorkirche gefeiert. Auch hierher begleitete Agilof seinen Gastgeber wieder. Da der Elf äußerst neugierig und interessiert an Jungs Arbeit war und die beiden früh genug aufgebrochen waren, begleitete der Elf den Priester zunächst in die Sakristei. Daran, dass auch Frau Bach zugegen sein würde, hatte der Pastor nicht gedacht. Allerdings schaffte es Agilof, die Küsterin mit einer wortgewaltigen, äußert höflichen und von tiefen Verbeugungen begleiteten Entschuldigung zu besänftigen. Der Messe wohnte der Elf wieder als Besucher bei.
Als Agilof schließlich nach Mitternacht gemeinsam mit Christoph Jung die Kirche verließ, hatte es wieder begonnen zu schneien. Die Hände tief in den Taschen der geliehenen Jacke verborgen, sah der Elf in den grau-schwarzen Himmel empor.
„Ich hätte Eure Welt zu gern ohne diese lästige Wettererscheinung gesehen“, brummte der Elf.
„Also ich mag Schnee. Irgendwie macht er alles ruhiger und friedlicher, finde ich…“, bemerkte Jung und blickte ebenso den dicken Flocken entgegen.
Eine Weile standen die Männer schweigen so da, bis Jung schließlich dem Elfen freundschaftlich auf den Rücken klopfte und meinte: „Frohe Weihnachten, Agilof!“
„Euch auch, Christoph.“, antwortete der Elf und wand seinen Blick dem Pastor zu.
„Lass uns heimfahren. Ich bin müde. Morgen ist auch noch ein Tag.“
Wieder in der warmen Wohnung des Priesters angekommen, dauerte es nicht lange, bis Dunkelheit und Stille Einzug hielten. Sowohl Jung, als auch Agilof waren schnell dem Schlaf der gerechten anheimgefallen.
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Donnerstag, Dezember 18th 2014 at 10:11 am |
Neugierig, wie ich nun mal bin, habe ich angefangen, Deine Geschichte zu lesen. Sehr interessant, ehrlich!
Da ich aber wegen meiner Augen nicht so lange (ist natürlich relativ…) lesen kann meine Frage:
Ist ausdrucken möglich? Und wenn ja, wie mach ich das? Wenn das aber nicht geht, dann lese ich halt in Raten, will doch unbedingt wissen, wie es weiter geht und endet!
LG Ingrid
Donnerstag, Dezember 18th 2014 at 10:33 am |
Du kannst auf PDF klicken (ganz oben auf seite 1) und dann öffnet sich entweder eine neue Registerkarte (jenachdem welchen browser du nutzt) oder du kannst das speichern. Wenn das PDF offen ist, kannst du die Geschcihte ausdrucken. Oben rechts ist ein Drucker Symbol.
Freut mich, wenn sie dich schon neugierig gemacht hat 😀
Donnerstag, Dezember 18th 2014 at 1:48 pm |
Das ist wirklich eine sehr schöne Geschichte 🙂 Danke 🙂
Donnerstag, Dezember 18th 2014 at 2:29 pm |
Danke 🙂
Sonntag, März 15th 2015 at 10:11 am |
[…] ihn schon kennt hat nämlich dann mein Weihnachts-ebook (etwas längere Kurzgeschichte 😉 ) “Der Weihnachtself” gelesen. Die heutige Geschichte spielt nämlich ca. 1,5 Jahre nach den Ereignissen besagter […]