Der Weihnachtself

Tag 2

Um sieben klingelte der Wecker des Priesters. Brummend schlug er auf das piepsende Etwas neben seinem Bett und schälte sich langsam aus seiner Decke. Verschlafen tappte er in den Flur. Im Wohnzimmer war noch alles still, so entschied er sich, den Elf erst zu wecken, wenn er selber soweit fertig war. Nach einer warmen Dusche, deckte er also den Frühstückstisch und betrat dann das Wohnzimmer. Zu seiner Überraschung, war sein Gast bereits wach, saß aber im Dunkeln, da er nach eigener Aussage nicht gewusst hatte, wie das Feuer der Deckenlampe zu entfachen gewesen war.

Während des Frühstücks, wirkte Agilof sehr nachdenklich. Als Jung ihn darauf ansprach, meinte der Elf: „Es ist wegen der Nachrichten gestern Abend. Ist die Welt wirklich so schlecht?“
„Die Welt selbst kann es nicht sein. Die Menschen aber wohl…“, meinte der Priester nachdenklich.
Seit er dem Elf am vorherigen Tag begegnet war, hatte er sich bereits einige Gedanken gemacht. Nicht nur zu dem, was der Elf von sich erzählt hatte – und wovon der Pastor immer noch nicht wusste, was er davon halten sollte –, sondern auch zu dem Bild, dass die Welt heute bieten konnte und musste.
„Also, heute ist ja Heiligabend. Ich habe noch einiges vor, bevor ich heute Nachmittag und heute Abend jeweils eine Messe halten muss. Du kannst mich gerne zu allem begleiten.“, wechselte der Pastor schließlich das Thema.
„So ich darf, werde ich den heutigen Tag gerne an Eurer Seite verbringen und Euch zur Hand gehen, wenn Ihr es wünscht.“, bejahte der Elf die unausgesprochene Frage.

So machten sich Christoph Jung und Agilof gegen neun Uhr auf den Weg. Wieder blieb das Schwert des Elfen zuhause und wieder war dieser zwar nicht begeistert, auch nicht von einer neuerlichen Fahrt mit dem Auto, fügte sich aber in sein Schicksal.

Ihr erstes Ziel war ein großes Seniorenwohnheim. Die meisten Bewohner waren in einem großen Aufenthaltsraum versammelt und begrüßten den Priester sehr erfreut. Agilof sah sich verwundert um.
„Was ist das für ein Ort?“, fragte er den Priester leise.
„Ein Altenheim.“, gab er zurück, doch als er das verständnislose Gesicht des Elfen sah, fügte er hinzu: „Hier leben alte Menschen, die keine Verwandten haben oder um die sich niemand kümmern möchte oder kann, die aber zu alt sind, um allein zu leben.“
Die Augen des Elfen weiteten sich. „Ihr Menschen verbannt Eure Ältesten aus Eurer Mitte? Sie haben die höchste Achtung verdient!“, empörte er sich.
„Sie haben Achtung verdient, das ist richtig, aber oft geht es nicht anders. Daher komme ich, so oft ich kann hierher, um ihnen ein wenig ihre Einsamkeit zu nehmen. Diese wiegt an Weihnachten aber nun besonders schwer. Gleich werde ich mit den Bewohnern eine kleine Andacht in der hauseigenen Kapelle feiern. Du kannst dich gerne mit den Leuten hier unterhalten, aber erzähl lieber nicht, dass du ein Elf bist“, erklärte Jung und machte sich dann in die Kapelle auf, um die Andacht vorzubereiten.
Einen Moment stand der Elf etwas unschlüssig bei der Tür und wurde interessiert gemustert. Dann vollführte er eine galante Verbeugung und meinte laut, sodass ihn jeder verstehen konnte: „Seid mir gegrüßt, ihr ehrenwerten Ältesten! Ich begleite heute meinen Freund, den Priester und werde Euch mit Freuden von Eurer Einsamkeit befreien!“
Die Blicke die ihn nun trafen, wurden mehr kritisch denn interessiert, aber plötzlich begann eine der alten Damen zu kichern.
„So ein höflicher, wenn auch etwas eigenartiger, junger Mann. Kommen Sie doch mal etwas näher, ich beiße schon nicht. Und die anderen auch nicht. Wie heißen Sie, junger Mann?“, meinte sie freundlich und lächelte den Elf an.
„Ich bin Agilof von den… hmm… von einem sehr entfernt liegenden Ort. Und wie ist der Eurige Name, werte Dame?“, entgegnete der Angesprochene und kam der Aufforderung näher zu kommen nach. Da kam aber auch schon eine der Pflegerinnen in den Raum und gab Bescheid, dass die Andacht gleich beginnen würde. Agilof trat zu der alten Dame hin, die ihn angesprochen hatte und bot ihr galant eine Hand, um ihr aus dem Sessel aufzuhelfen.
„Sie sind wirklich ausgesprochen höflich“, stellte die Dame erneut fest und ließ sich aufhelfen. „Ich heiße Elsbeth Schuster.“
„Nun denn, Frau Elsbeth. Erweist Ihr mir die Ehre, Euch zur Andacht geleiten zu dürfen?“
Elsbeth strahlte Agilof an, nickte resolut und hackte sich bei seinem angebotenen Arm unter.

Nach der Andacht, der ersten, die Agilof je erlebt hatte, fanden sich wieder viele der Bewohner, sowie Jung und der Elf in dem Aufenthaltsraum ein. Agilof hatte Elsbeth Schuster wieder zu ihrem Sessel geleitet und nahm auf einem Stuhl an ihrer Seite Platz. Lächelnd musterte die alte Frau den jungen Mann.
„Tragen alle Männer ihre Haare so lang wie Sie, dort wo Sie herkommen, Agilof?“, fragte sie und bewunderte die langen kastanienbraunen Haare des Elfen.
„Die meisten schon. Gefällt Euch mein Haar?“, antwortete der Elf lächelnd.
Die Dame nickte verträumt und meinte: „Früher sahen meine Haare mal ganz ähnlich aus, aber heute bin ich grau und runzelig.“
„Das mag sein, Frau Elsbeth. Ich kann nicht abstreiten, was offensichtlich ist, aber Ihr seid sicher eine erfahrene und weise Frau. Seht, bei uns sind es die Ältesten, die den größten Respekt bekommen, da sie es aufgrund ihrer Erfahrung vortrefflich verstehen uns zu leiten. Ich würde mich geehrt fühlen, wenn Ihr mich an Euren Erfahrungen teilhaben lassen würdet und mir von Euch erzählen würdet.“, erklärte Agilof mit ehrlichem Blick und neigte demutsvoll den Kopf.
Frau Schuster lachte. „Herr Jung, warum haben Sie Ihren Freund hier denn noch nicht früher mit hierher gebracht? Er ist ein kleiner Charmeur, wissen Sie das?“, rief sie zu dem Priester hinüber, der mit ein paar der Bewohner Canasta spielte und sich unterhielt.
Er sah auf und lächelte. „Nun Frau Schuster, das liegt dran, dass ich ihn noch nicht lange kenne. Es freut mich aber, wenn Sie sich mit ihm verstehen.“, erklärte er dann.
Die Dame nickte und wandte sich dann wieder an den Elf: „Wenn es Sie wirklich interessiert, werde ich Ihnen gerne etwas aus meinem Leben erzählen. Viel zu selten interessiert es jemanden…“
Als sich ein trauriger Ausdruck auf ihr Gesicht legte, nahm Agilof behutsam ihre schrumpelige Hand in seine eigenen, glatten und schlanken Hände und schenkte ihr einen mitfühlenden Blick. Dies entlockte der Alten ein Lächeln und erfreut, dass ihr jemand zuhörte, begann sie zu erzählen.

Schließlich kam Jung zu den beiden herüber und unterbrach die Erzählungen der alten Frau höflich.
„Es tut mir wirklich leid, dass ich Ihnen Agilof nun entführen muss, Frau Schuster, aber wir müssen noch zur Tafel. Ich werde demnächst noch mal zu Besuch kommen.“, erklärte er.
„Sicher, sicher. Viel zu lange habe ich dem jungen Mann hier jetzt schon ein Ohr abgekaut. Und wenn Sie noch zur Tafel wollen, möchte ich Sie natürlich nicht aufhalten. Werden Sie uns auch bald wieder besuchen, Agilof?“, winkte die Angesprochene verständnisvoll ab.
„Es tut mir leid, Frau Elsbeth, aber das wird leider nicht möglich sein. Ich werde schon morgen wieder nach Hause zurückkehren.“, erklärte der Elf ihr und blickte zu dem Priester auf. „Aber ich bin sicher, Christoph wird sich gut um Euch kümmern.“
Die Dame lächelte. „Das wird er bestimmt und wenn Sie wieder nach Hause müssen, verstehe ich das natürlich. Wenn Sie aber noch mal in der Stadt sind, würde ich mich freuen, wenn Sie mich besuchen würden.“
Agilof erhob sich und kniete dann elegant vor Elsbeth Schuster, die noch immer in dem gemütlichen Sessel saß, nieder.
„Wenn die Weisungen meiner Ältesten mich wieder einmal hierher führen sollten, so wird es mir eine ausgesprochene Freude sein, Euch wieder zu besuchen und Euren Geschichten zu lauschen. Doch leider, kann ich Euch nicht versprechen, dass dies bald wieder der Fall sein wird. Aber nehmt meinen demütigsten Dank an, dafür dass Ihr mir von Eurem Leben und Euren Erfahrungen berichtet habt.“ Der Elf ballte die rechte Hand zur Faust, legte sie auf seine Brust und neigte sein Haupt. „Möge die Sonne stets Eure Wege erleuchten, sanfter Regen Eure Felder wässern und mögen Euch alle guten Mächte dieser Welt zur Seite stehen.“
Leicht verdutzt sahen die alte Dame und der Priester auf den knienden Elfen hinab, aber dann traten Frau Schuster einige Tränen der Rührung in die Augen.
„Ich danke Ihnen Agilof, dass Sie mir zugehört haben. Sie sind vielleicht etwas seltsam, aber Sie sind ein herzensguter Mensch. Auf Wiedersehen!“, meinte sie dann, reichte dem Elfen ihre Hände und bedeutete ihm so aufzustehen.
Agilof folgte sodann dem Priester und verabschiedete sich mit einer letzten galanten Verbeugung von der Tür aus von den Bewohnern des Altenheims.

Im Auto erklärte Jung seinem Begleiter, was ihr nächstes Ziel war. Sie fuhren nun zur Koblenzer Tafel, wo heute an Heiligabend zur Mittagszeit eine Speisung derer stattfinden sollte, die nicht so viel Geld hatten. Er engagierte sich regelmäßig für die Tafel, erklärte Jung, aber für Weihnachten hatte er etwas Besonderes organisiert und nicht eine bloße Ausgabe von Lebensmitteln, wie es sonst der Fall war.
Außerdem bemerkte er, wie nett er das Verhalten Agilofs gegenüber der Bewohner des Altenheims gefunden hatte. Er war froh, dass er sich in seiner Einschätzung nicht geirrt zu haben schien: Der Mann schien zwar etwas verwirrt zu sein, aber er war nicht gefährlich.

Als Christoph Jung und sein Begleiter die Räumlichkeiten betraten, wurde der Priester auch hier freudig begrüßt. Eine Frau mittleren Alters kam auf sie zu und meinte: „Herr Jung, da sind Sie ja endlich. Sie wollten doch früher hier sein.“
„Tut mir leid, Frau Baum, aber ich war noch im Seniorenstift und habe die Zeit vergessen. Dafür habe ich noch Hilfe mitgebracht. Darf ich vorstellen, dies hier ist Agilof. Er ist derzeit bei mir zu Besuch und wird uns heute unterstützen“, entschuldigte sich der Pastor und deutete dann auf den Elfen.
Dieser vollführte erneut eine galante Verbeugung und meinte, nachdem er sich wieder aufgerichtet hatte: „Gebt mir eine Aufgabe und ich werde sie, so es in meiner Macht steht, gewissenhaft ausführen.“
„Nun… Sie beide könnten sich um die Tische kümmern. Es stehen immer noch nicht alle an ihrem Platz und in gut einer Stunde soll es doch schon losgehen hier…“, meinte die Frau verdutzt und verschwand, nachdem Jung genickt hatte, wieder in der Küche, in der ein geschäftiges Treiben herrschte. Insgesamt hatten sich fünfzehn Männer und Frauen dem Priester als freiwillige Helfer angeschlossen.

„Du solltest wirklich mit diesem Theater aufhören“, grummelte der Pastor schließlich und wandte sich Agilof zu, der ihn verständnislos ansah.
„Was meint Ihr, Christoph?“
„Na, diese seltsame Art und Weise zu sprechen und das mit den Verbeugungen.“
„Ja, mir ist schon aufgefallen, dass die Menschen hier sich gänzlich anders ausdrücken und verhalten, aber so wurde ich aufgezogen und ich werde wohl kaum einfach Verhaltensweisen ablegen, die ich seit gut hundert Jahren pflege“, erklärte der Elf grinsend.
„Hundert Jahre? Ist gut… Lass uns nach den Tischen sehen“, seufzte Jung resigniert und ging voran.

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5 Comments

  1. Kommentare von Ingrid, die Bastelmaus:

    Neugierig, wie ich nun mal bin, habe ich angefangen, Deine Geschichte zu lesen. Sehr interessant, ehrlich!
    Da ich aber wegen meiner Augen nicht so lange (ist natürlich relativ…) lesen kann meine Frage:
    Ist ausdrucken möglich? Und wenn ja, wie mach ich das? Wenn das aber nicht geht, dann lese ich halt in Raten, will doch unbedingt wissen, wie es weiter geht und endet!
    LG Ingrid

    • Kommentare von therealdarkfairy:

      Du kannst auf PDF klicken (ganz oben auf seite 1) und dann öffnet sich entweder eine neue Registerkarte (jenachdem welchen browser du nutzt) oder du kannst das speichern. Wenn das PDF offen ist, kannst du die Geschcihte ausdrucken. Oben rechts ist ein Drucker Symbol.

      Freut mich, wenn sie dich schon neugierig gemacht hat 😀

  2. Kommentare von Eileen:

    Das ist wirklich eine sehr schöne Geschichte 🙂 Danke 🙂

  3. Ping von Erinnerungen und Lasten | DF.PP Entertainment:

    […] ihn schon kennt hat nämlich dann mein Weihnachts-ebook (etwas längere Kurzgeschichte 😉 ) “Der Weihnachtself” gelesen. Die heutige Geschichte spielt nämlich ca. 1,5 Jahre nach den Ereignissen besagter […]

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